Bei der Deutung literarischer Texte orientieren sich Schülerinnen und Schüler oft an Informationen aus dem Internet, die so zum Maßstab der eigenen Auseinandersetzung mit dem Text werden. Als genereller Umgang mit literarischen Texten ist eine solche Haltung auch verhängnisvoll, weil sie eine starke Orientierung an Sekundärliteratur oder populären Literatursendungen des Fernsehens fördert.

Diese Orientierung verkennt zudem ein essentielles Merkmal literarischer Texte: Sie sind mehrdeutig. So mehrdeutig zum Teil, dass es so viele Auslegungen wie Leser geben kann. Die Stellen, die ein Autor absichtlich schematisiert, also „unbestimmt“ dargestellt hat, müssen vom Rezipienten vervollständigt werden. Gleichzeitig ist die Arbeit des Rezipienten dann am nachhaltigsten, wenn er selbstständig einzelne Textelemente aufeinander beziehen kann und damit die „Leerstelle“ zwischen diesen Elementen auffüllt.

Jede Deutung wird also individuell vom Rezipienten geprägt. Man kann sogar sagen, dass die literarische Qualität eines Textes zum Teil davon abhängig ist, wie sehr er durch Leerstellen zur individuellen Auslegung auffordert. Trotzdem bedeutet das aber nicht, dass die Interpretation nun vollständig willkürlich ist. Die Plausibilität einer Deutung muss stets die Textgrundlage unterstreichen. Und somit müsste es das Ziel des Literaturunterrichtes in der Schule sein, Schülerinnen und Schüler dazu zu ermutigen, den Leer- und Unbestimmtheitsstellen individuell einen Sinn zu geben und dies einleuchtend am Text zu erklären.

Die Schwierigkeiten, die ein solches Vorgehen insbesondere für die Beurteilung und Benotung mit sich bringt, liegen auf der Hand. Sie erfordern von der Lehrperson die Bereitschaft, sich auf die jeweilige individuelle Interpretation einzulassen und von eigenen oder in der Sekundärliteratur vorhandenen Deutungen Abstand zu nehmen. Von Schülerinnen und Schülern verlangt es die Beherrschung der Methoden, mit denen die eigene Auslegung verständlich am Text begründet werden kann.

„Richtiges“ Interpretieren versteht sich somit nicht als das Erraten einer möglichen Autorenintention oder das Festlegen einer allgemeingültigen Textbedeutung, sondern als die Formulierung der eigenen Sinnkonstruktion auf der Basis einer nachvollziehbaren Anwendung methodischer Werkzeuge am Text. Welches sind diese Werkzeuge?

  • Zunächst ist es wichtig, sich Inhalte aus einem Text erschließen zu können. Dazu gehört die Beherrschung unterschiedlicher Lesarten wie Überblickslesen, Detaillesen, selektives Lesen genauso wie Methoden der Textmarkierung durch Unterstreichen bzw. das Anfertigen von Randnotizen. Die Zusammenfassung der wesentlichen Textinhalte ist eine der schwierigsten Aufgaben überhaupt, da deren Bedeutung jeweils individuell bewertet werden muss und nur selten generalisierbar ist. Genauer gesagt: Für jeden Rezipienten ist möglicherweise ein anderer Gesichtspunkt bedeutsam. Die formalen Kriterien der Inhaltswiedergabe dagegen sind verallgemeinerbar. Sie gelten für alle Formen der reproduzierend-beschreibenden Textwiedergabe.
  • Die Analyse literarischer Texte kommt nicht ohne die Kenntnis der wichtigsten Begriffe und ohne eine Untersuchung der für die betreffende Gattung bedeutsamen poetischen Gestaltungsmittel aus: Für das Drama, die Epik und die Lyrik werden jeweils unterschiedliche Gestaltungselemente benutzt, die es zu erkennen und in Beziehung zu Wirkung und Inhalt zu setzen gilt. Bei der Auseinandersetzung mit einem Bühnenstück müssen auch die nicht im Text vorhandenen theatralischen sprachlichen und nicht-sprachlichen Zeichen, die Bühne, Schauspieler, Geräusche, Musik und visuelle Effekte betreffen, berücksichtigt werden. Für erzählende und dramatische Texte ist schließlich auch die Charakterisierung der Figuren wichtig. Dabei kann eine Checkliste hilfreich sein.
  • Die Textinterpretation kann sich als textimmanente Interpretation auf eine Analyse auf der Basis von Inhalt und sprachlicher Gestaltung des Texts beschränken. Die Einordnung eines Textes in die Epoche kann dann aufschlussreich wirken, wenn sie etwa Vergleiche mit anderen Texten ermöglicht und zusätzliche Informationen über den Text bereitstellt, die die eigene Deutung ergänzen können.
  • Die in der Schule angewendeten Methoden gehen meist intextimmanentstrukturalistische oder biografisch-epochentypische positivistische Richtungen. Daneben gibt es eine ganze Reihe anderer Methoden, mit deren Hilfe das eigene literarische Verstehen eines Textes ergänzt werden kann. Ihre Anwendung setzt aber tiefergehende Kenntnisse der jeweiligen Bezugswissenschaft voraus.
  • Der Ablauf eines Interpretationsprozesses ist stark individuell geprägt. Dennoch wird in dieser Handreichung versucht, einen idealtypischen schriftlichen Interpretationsprozess zu beschreiben.
  • Für das Verfassen der schriftlichen Interpretation ist es wichtig, Zitate zu verwenden, die die eigene Vorstellung nachvollziehbar auf den Text beziehen. Dabei müssen die Regeln des korrekten Zitierens eingehalten werden.
  • Schließlich müssen alle für die Interpretation verwendeten Quellen nachprüfbar belegt und deshalb in Fuß- oder Endnoten und in einem Literaturverzeichnis angegeben werden. Am Ende dieser Handreichung werden die Regeln der korrekten Quellenangabe an Beispielen aufgezeigt.

„Richtiges Interpretieren“ heißt …
… eine individuelle Vorstellung des Sinngehaltes eines Textes zu schaffen,
… keine vorgefertigten Interpretationen ungeprüft zu übernehmen,
… die individuelle Deutung auf der Grundlage des Textes nachvollziehbar
zu machen,
… die Interpretationswerkzeuge zu verwenden, die die eigene Deutung
erweitern können,
… in einer Anschlussdiskussion (schriftlich oder mündlich) die eigene
Auslegung zu erläutern und Rückmeldungen von Gesprächspartnern zu
reflektieren,
… offen zu sein dafür, dass sich die persönliche Deutung im Laufe der Zeit
ändern kann, je nachdem, wie sich das eigene Vorwissen entwickelt.

Solltet ihr Fragen zum Thema „Richtiges Interpretieren“ haben, schreibt sie uns einfach in die Kommentare und wir werden euch diese schnellstmöglich beantworten.